Wir hatten mit Luiz Eduardo do E. Santo vor einem Wasserfall in der Nähe von Ouro Presto gesessen, etwa 100 Kilometer von Belo Horizonte entfernt. Das Gespräch hatte so lange gedauert, dass wir uns erst auf den Rückweg zum Auto machten, als das Spiel Deutschland gegen Algerien schon längst lief. Auf der Fahrt waren wir uns noch sicher, dass wir für unsere Leser ein außerordentliches Opfer gebracht hatten. Und dann trafen wir zu Beginn der zweiten Halbzeit in einer Bar im Zentrum Ouro Pretos ein und stellten fest, dass Luiz uns in Ouro Preto sprachlos ins Wasser starren ließ, während die deutsche Abwehr in Porto Alegre schwamm. Es war kein Opfer. Wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Ouro Preto ist mit seinen 13 Kirchen, den Gassen aus Kopfsteinpflaster und den Madonnenlädchen einer der touristischen Hotspots Brasiliens, einerseits. Andererseits ist er ein eindrucksvolles Symbol für die blutige Kolonialgeschichte dieses Landes. Luiz vereint in sich beide Seiten: Er arbeitet als Touristenführer und ist der Sohn eines Mannes, der 1884 geboren wurde, vier Jahre vor der offiziellen Abschaffung der Sklaverei, und der in seinem Leben ein bisschen mehr als 30 Kinder gezeugt hat. So genau kann das keiner sagen. Von Luiz wollten wir wissen, wie viel brasilianische Geschichte in ihm steckt (seine Antworten folgen irgendwann nach dem Viertelfinale der Brasilianer), wie viel vom Aufschwung Brasiliens in seinem Leben ankommt (die auch) und ob Brasilien Weltmeister wird (die kommt jetzt: „Nein. Wenn doch, sollen sie gewinnen. Aber wenn nicht, dann Deutschland.“). Er hatte so viel zu erzählen und wir so viel zu fragen, dass wir nicht bemerkten, wie die Zeit vergeht.
Das geht uns so, seit wir vor mehr als drei Wochen unseren ersten Beitrag veröffentlicht haben. Die Zeit rennt davon, als sei sie gedopt. Wir haben auf den Etappen unserer Reise zwischen São Paulo, Passa Quatro, Mariana und Belo Horizonte so viele Menschen getroffen, die uns zu sich eingeladen, uns mit in die Berge genommen oder uns zum Samba-Tanzen mitgenommen haben, dass wir oft gar nicht so schnell davon erzählen können, wie wir zu unserer nächsten Verabredung aufbrechen müssen. Und plötzlich ist Achtelfinale und wir haben nur noch eineinhalb Wochen. Unsere Reiseroute hat sich in den vergangenen Wochen so oft verändert wie das deutsche Mittelfeld.
Eigentlich hatten wir vor, mindestens einen anderen Ort Brasiliens mit dem Flugzeug zu erkunden. Salvador, Manaus oder Fortaleza. Mussten wir streichen. Unser Blog macht tatsächlich so viel Arbeit, wie es Spaß macht. Was wir hier sehen und hören, lässt sich nicht in wenigen Stunden auf den Bildschirm bringen. Wir hätten auch gern beim deutschen Team vorbeigeschaut, wie wir das vor vier Jahren gemacht haben. Oder zumindest das Fanlager der Niederländer, das Christian schon mehrmals besucht hat – nur um den Nachbarn zu sagen, dass sie sich keine falschen Hoffnungen zu machen brauchen. Im Halbfinale fliegt nicht nur Robben. Wird auch nicht mehr klappen. Und wir hätten gern einen Samba-Kurs belegt für unser Dankesvideo zum Schluss. Könnte auch eng werden. Der Tanzkurs, nicht das Video.
Wir haben unsere Reisekasse deshalb auf den aktuellen Stand gebracht und viele Posten entfernt, die wir anfangs einkalkuliert hatten. Damit kommt bereits jetzt ein hübsches Plus zusammen in unserem Budget. Dafür bedanken wir uns sehr herzlich bei allen, die das bis jetzt möglich gemacht haben. Als wir Anfang Juni ins Flugzeug stiegen, wussten wir nicht, ob sich das Risiko auszahlen würde. Das tut es. Und dass es inzwischen sogar Unterstützer gibt, die uns zum zweiten Mal etwas überwiesen haben, trägt dazu bei, dass wir der gedopten Zeit bis zum Finale am 13. Juli mit gedopter Motivation begegnen. Vier Stunden Film und Ton und hunderte von Fotos liegen noch auf unseren Festplatten und wollen bearbeitet werden. Und Verabredungen für die letzte WM-Woche in Rio de Janeiro sind bereits getroffen. Und wer uns trotz des Überschusses in unserer Reisekasse noch ein Honorar zukommen lassen möchte, für die Arbeit hier oder für die sechs Wochen Vorbereitung vor der Abreise (damit wir auch zurück in Deutschland so schön auf den Rummel gehen können wie in Belo Horizonte am vergangenen Wochenende), dem sei gesagt: Bei Brafus2014 ist noch niemand weggeschickt worden.
Zum Schluss dieses Tages, Deutschland lag da längst in der Eistonne, sagte uns Luiz, er sei sich sicher, dass unsere Arbeit bestimmt auch bei uns persönlich ihre Spuren hinterlassen werde. Recht hat er. Dafür kann man auch gern mal zwei Halbzeiten sausen lassen.
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