Tag 24: Demonstrieren bis zum Anpfiff

Sie selbst wird sich, anders als die meisten Brasilianer, kein Spiel dieser WM ansehen. Sie würde sich damit zur Verbündeten einer Sache machen, gegen die sie kämpft, findet sie. Doch es ist nicht allein mit dem bevorstehenden Spiel zu erklären, dass an diesem Mittag nicht mehr Einwohner von Belo Horizonte gekommen sind. Es liegt auch an der Wucht, mit der die Polizei hier auftritt. Seit Beginn der WM ist oft zu hören, dass viele Brasilianer nicht fernbleiben, weil ihnen die Demonstrationen gleichgültig wären. Sondern, weil sie Angst haben. An diesem Mittag wird klar, wie viel Aufwand die Polizei betreibt, um diese Angst nicht verglimmen zu lassen.

Zwei Einheiten sind hier zusammengezogen. Die eine kommt von der Militärpolizei. Junge Männer in weißen Helmen und freundlichem Logo mit blau-gelb-roten Streifen: „Batalhão Copa“ heißt es darauf, das WM-Bataillon. Ein wenig wirken sie wie die netten Jungs, die den Demonstranten freundlich, aber bestimmt zu verstehen geben, dass die sich doch bitte zu benehmen haben. Nur wenige Meter entfernt haben sich die Männer aufgebaut, die eingreifen, sollten sie dieser Bitte nicht folgen. Ihre Helme sind schwarz. Manche tragen Tücher vor dem Mund. Einige haben dunkle Sonnenbrillen auf. Demonstrativ halten ein paar Maschinengewehre vor dem Körper. Es sind die „Choque“-Einheiten, die speziell geschult wurden und deren Einsätze zu Beginn der WM im Fernsehen übertragen wurden, so dass jeder sie sehen konnte. Die Botschaft war unmissverständlich: Wer Ärger möchte, wird Ärger bekommen. Und was Ärger ist, bestimmen wir.

Als sich gegen zwölf der Demonstrationszug in Bewegung zu setzen versucht, geht alles sehr schnell. Aus allen Richtungen strömen die Einheiten zusammen und bilden um den Platz innerhalb weniger Minuten einen Kessel. Vor einem Jahr waren es die Demonstranten, die die Straßen blockiert haben. Heute sind es die Polizisten. Und mit einem Mal herrscht auf dem Praça Sete de Setembro eine Atmosphäre, bei der nur ein Funke fehlt und die Situation eskaliert.

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Mittendrin, bewaffnet mit Videokamera, Fotoapparat und Aufnahmegerät, steht Mário Lúcio C. de Paula. Der 33-Jährige arbeitet als Redakteur für „A Nova Democracia“. Die kleine unabhängige Zeitung aus Rio de Janeiro gehört zu denen, die seit den Protesten im vergangenen Jahr die Aufgabe übernommen haben, die Aktionen der Polizei zu dokumentieren, zum Teil live im Internet. Die Polizei reagiert darauf, indem sie die Reporter akribisch untersucht. Im vergangenen Jahr wurden laut seiner Aussage mehr als 40 Journalisten mit Gummiknüppeln angegriffen, einer verlor sogar sein Auge. Auch er wurde heute schon kontrolliert. Langsam spaziert er über den sich mehr und mehr leerenden Platz und beobachtet, wie nichts geschieht. Lange hat er sich mit seinen Kollegen darüber unterhalten, was in seinem Land gerade geschieht. Und dies ist die Antwort, die sie darauf gefunden haben:

„Nach unserer Einschätzung gehen die Proteste unseres Volkes weit über die Weltmeisterschaft hinaus. Die WM dient lediglich als Katalysator dafür, dass noch mehr Personen auf die Straßen gehen. Aber wir stellen auch fest, dass es natürlich ist, dass sie nicht größer werden. Was in unserem Land gerade passiert, ist keine Revolution. Es ist das Erwachen eines Bewusstsein. Die Erhebung eines Bewusstseins einer Generation vieler junger Menschen, die dreißig Jahre denen zugehört haben, die heute regieren – die PT, Dilma Rousseff, Lula. Die abwarten und wählen sollten, bis alles sich verändern würde, wenn die PT an die Macht kommen würde. Und diese Generation hat festgestellt, dass sich nichts verändert hat, dass die Wahlen für das Volk nichts verändert haben. Es war eine Generation, die nach dem Militärregime in unserem Land geboren ist, nach einer Militärdiktatur, die darauf gehofft hat, dass sich mit den Wahlen etwas ändern würde. Aber es gab überhaupt keine Veränderung. Wir sehen also, dass fünfzig Jahre nach dem Militärputsch, der die Diktatur in diesem Land eingeleitet hat, es wieder – wie Ihr hier seht – Einzäunungen durch die Polizei gibt, die Schockeinheiten aufgebaut werden. Die Armee wird das Maracana-Stadion am Ende der WM verteidigen. Dieser Staat mit demokratischen Gesetzen existiert also nicht, wie er versprochen wurde. Dadurch, dass das Volk das versteht und sich dagegen auflehnt, ist es egal, ob es viele oder wenige sind. Das Wichtige ist, dass es eine neue Generation ist, die nicht so ein klares Bewusstsein darüber hatte. Und wir sehen, dass die Parolen, die Proteste gegen die WM eine neue Qualität gewinnen. Es sind ebenso Proteste gegen dieses System, das viele für trügerisch halten. Die Leute verlangen eine wirkliche Veränderung in unserem Land. Manchmal sind es viele Leute, manchmal wenige. Nach unserer Abwägung ist es positiv, dass der Protest stattfindet und dass er weitergeht, trotz der Unterdrückung und der Schwierigkeiten.“

Die geringe Beteiligung an der Demonstration ist auch für ihn kein Grund, am Protestwillen der Brasilianer zu zweifeln. Seine Landsleute seien nun mal verliebt in Fußball, sagt er. Aber sie wüssten genau zu unterscheiden zwischen dem Wettkampf und dem, was die Fifa daraus macht. Als sich die brasilianische Nationalmannschaft zur Hymne aufstellt, verteilen sich nur noch wenige Menschen auf dem Platz. Diejenigen, von denen es um eins noch genau so viele gibt wie um halb elf, sind die Polizisten. Vom 1:0 erfahren sie nur durch den Jubel, der aus so gut wie allen umliegenden Häusern dringt. Und durch die weißen Schnipsel, die wie aus dem Nichts vom Himmel regnen.